Als Pierre Favre in den sechziger Jahren begann, neue Klangwelten des Schlagzeugspiels zu erschliessen, hatte er bereits mit vielen international renommierten Europäern und Amerikanern sowie mit prominent besetzten Big Bands gespielt. Doch es drängte ihn zu einer eigenständigen Musik. Das begann im Trio mit dem Bassisten George Mraz, dann mit Peter Kowald am Kontrabass und von Anfang an mit Irene Schweizer am Piano. „Es ist“ so Pierre Favre, „ein Glücksfall einer langen, unabhängigen und doch gemeinsamen Entwicklung.
Auf der Suche nach den melodischen Aspekten von Schlagzeug und Perkussion fand Pierre Favre zum Solo. Gemeinsam mit Paul Motian, Fredy Studer und Nana Vasconcelos, formierte er ein Perkussionsensemble, das die orchestralen Möglichkeiten des perkussiven Solospiel potenzierte. „ Singing Drums „ , ein Quartett mit vier Schlagzeugern, erlebte eine weitere Transformation in Gestalt Des „ European Chamber Ensemble „, eine Besetzung mit zwei Schlagzeugern Bläsern und Streicher.
2004 ehrte die Stadt Zürich Pierre Favre mit dem Kunstpreis der Stadt. Bert Noglik
Über die Freiheit
Interview von Lucas Niggli mit Pierre Favre am 1. April 2017 für Jazz N More
Lucas Niggli:
Der Jazz ist immer viel gereist, und Du bist in Deinem Leben sehr viel gereist.
Du hast sehr früh regelmässig mit anderen Musikern aus andern Weltregionen und Kulturen zusammengespielt, improvisiert.
Unter anderem in Indien, Brasilien, Japan, schon in den frühen 7oern, als es den Begriff der Worldmusic wohl noch nicht gab. Woran oder an wem hast Du Dich orientiert –auf dieser grossen Welt?
Pierre Favre:
Das Schlagzeug hat mir Welten geöffnet.
Als mein Vater starb, fanden wir in seinen persönlichen Sachen einen Pass, den er sich selbst gekauft hatte. Es war ein Pass, der ihn als Weltbürger auswies, und dies 1937, das Jahr in dem ich geboren wurde.
Das war eine Deklaration, ein Bekenntnis. Ich komme aus einer Gegend, wo der freie, offene Geist Tradition ist. Diese Offenheit und Neugierde hat mich scheinbar beeinflusst.
In der Jazzwelt, Ende der Sechziger Jahre, gab es plötzlich keine Leitbilder mehr. Für mich waren das damals vor allem Miles Davis und John Coltrane.
Eine Ausnahme ist Thelonious Monk, der uns heute noch durch seine Aufnahmen neue Wege öffnet.
Warum?
Er war von seiner Herkunft stark geprägt, vom Blues bewohnt und bei alldem auch ein musikalischer Freigeist. Seine Musik ist sowas von frei, kreativ, spontan und gewagt und trotzdem auch so traditionell.
Wenn er mit der linken Hand die simple „Pumpe“ auf dem Klavier spielt, und mit der rechten Hand improvisiert, dann wird klar, wie komplex, einfallsreich und abenteuerlich seine Musik ist.
Monk war auch ein feiner Poet. Manchmal sassen wir mit seinem Schlagzeuger Ben Riley, ein guter Freund von mir, backstage, und Monk brachte uns mit seinen Witzen so zum Lachen und dadurch auch zusammen.
Bedeutet das :
Um seinen künstlerischen Weg zu gehen, ist Einsamkeit unumgänglich?
Wenn dich die Musik packt, und du den Mut hast, darin völlig einzutauchen, dann bist du einsam.
Wenn man für sich allein arbeitet, hat man eine ausgeprägtere Individualistik – eine eigene Sprache. Das hört man sehr gut an Deinen Solo Konzerten. Das ist das, was Du seit 50 Jahren regelmässig tust und immer noch weiterentwickelst.
Und trotzdem empfinde ich Dich auch als einen ausgeprägt starken Teamplayer. Dort bist Du sehr kommunikativ und unterstützend, was sicher auch am Schlagzeug liegt, das in der Regel als Begleitinstrument dient.
Das ist die Welt der Intuition. Schon in den frühen Sechziger Jahren habe ich mir gesagt: Ich möchte Musiker werden. Begleiten, Improvisieren, Solo spielen, Komponieren, Dirigieren, Unterrichten!
An dieser Vision arbeite ich heute noch.
Wir Drummer haben viel Verantwortung, die Dynamik, die Dramaturgie, die Intensität, sehr viel liegt irgendwie in unseren Händen …oder Ohren.
Ja, es ist unser Klang, unser Sound, der die Band färbt. Es gibt mehrere Bands die mit verschiedenen Drummers gespielt haben, und es sind immer die Drummer die den Klang einer grossen Band wirklich gross machen. Du erkennst sie sofort, diese Drummer!
Der Schlagzeuger, er lacht und freut sich.
Jetzt kommt die Frage: Lacht er weil er Schlagzeug spielt, oder spielt er Schlagzeug weil er diese Leichtigkeit und dieses innere Glück hat? Ohne diesen Humor kann man nicht gut spielen.
Vielleicht ist das Lachen ein Zeichen von Wendigkeit und Leichtigkeit und das ist für den Groove doch wichtig. Damit es „swingt“ muss man offen und loose sein.
Mir scheint, der Schlagzeuger der wirklich „Leben schenkt“, lächelt und so offen ist, der nimmt sich selber nicht so ernst. Der Schlagzeuger der fest beisst, der nimmt sich selber sehr ernst.
Und, das Schlagzeug ist etwas Poetisches. Es ist das Instrument, das so leise spielen kann, wie kaum ein anderes und auch laut wie kaum ein anders. Deshalb haben wir auch soviel Verantwortung.
Alles wird immer schneller. Wir stecken in einer Zeit der
Beschleunigung. Merkst Du das in der Musik? Auch in Deinem Spiel?
Ja, ich finde vieles ist dadurch sehr hart geworden. Und oft ist es auch einfach zu schnell!
In der Jazzgeschichte gab es aber bereits eine Periode wo alles immer schneller wurde. Du hast diese Zeit selber miterlebt und gespielt!
Ich glaube, ich kenne den Grund, warum es immer schneller wurde. Wir hatten nichts zu sagen!
Also war diese Temposteigerung ein Mittel zum Zweck. Es war auch eine Revolution. Wir wollten nicht mehr das, was schon war, und das geht meistens mit wie wild Draufschlagen.
Wir hatten vielleicht keine klare Message. Aber es war ein wichtiger Schritt um gewissen Schranken fallen zu lassen.
Es ist obsolet heute die Jazz-Geschichte in Dekaken zu sehen. Wir sind jetzt in einer Zeit der Beschleunigung. Was denkst Du wird passieren?
Immer wieder hat man gesagt, wir würden heute in die Zeit der Spiritualität kommen. Das sehe ich leider nicht so. Es ist überhaupt nicht wahr. Es ist die Zeit von Jeder gegen Jeden. Jeder will der Stärkste, der Wohlhabendste, der Mächtigste sein. Und die Kunst wird davon beeinflusst!
Ist dieses Heute eine inspirierende Zeit, verglichen mit anderen Momenten in deinem Leben? Oder denkst Du lieber an gute alte Zeiten?
Es gibt schon alte Sachen, bei denen ich mich frage, wow, woher kam das?
Heute ist mein Weg noch klarer geworden. Ich gehe komplett von mir aus. Aber inzwischen habe ich gemerkt, ich spiele jetzt besser als in den alten Sachen. Es ist ein bisschen so wie Fast Food und wirklich gutes Essen. Man muss es schmecken können.
Du wirst also mit 80 Jahren immer noch besser!
Ja, meine Sprache ist viel reicher geworden, und ich habe eine andere Art von Komplexität entwickelt.
Du machst aber weniger verschiedene Dinge als noch vor 20 Jahren?
Ja, weniger, dafür komplexer.
Das mit dem einsamen Weg, hat das aber vielleicht auch damit zu tun, das viele Deiner alten Freunde gegangen sind, nicht mehr Leben sind?
Ja, schon auch, aber hier geht es um eine andere Einsamkeit. Das Alter spielt hier nicht so eine Rolle. Wenn ich mit Dir spiele, sind wir beste Freunde, auch wenn Du zwei Generationen jünger bist.
Gerade jetzt habe ich wieder einen sehr guten, neuen Schüler, da spielt das Alter doch keine Rolle. Denn, er lernt von mir, und ich lerne von ihm.
Auch wenn es viele Schüler und angehende Musiker gibt, Talente hat es genau gleich viele oder gleich wenige wie früher. Ab und zu einen (lacht!)
Wenn ich Konzerte spiele, und ich beklage mich nicht, ich habe wirklich immer noch sehr viel zu spielen, dann geben mir die Kommentare der Leute auch wieder Kraft!
Das Üben ist Forschen, ist physische Arbeit, ist ein Lernen mit der Kraft umzugehen.
Realisiert wird aber am Konzert, und darum ist jedes Konzert eine Bereicherung.
Hast Du keine Angst vor dem Tod?
Mit dem Tod hatte ich vor etwa zwei Jahren regelmässige Rendezvous in der Nacht. Und wir haben die Sache miteinander besprochen (lacht).
In diesem Gefühl vom Tod ist ja auch so viel Leben drin.
Als ein alter Freund dich fragte, was soll man an deiner Beerdigung sagen, sollst Du geantwortet haben: Pierre Favre, er kam und er ging!
Ja, genau! Was soll man sonst sagen?!
Es gibt Dinge die weisst nur Du selber! Gibt es Fragen, die Du Dir selber stellen möchtest, um dann eben diese zu beantworten?
Ich stelle mir immer noch viele Fragen, und probiere sie auch zu beantworten.
Es gibt ja auch im Französischen den Begriff „Contre Coeur“ – also gegen das Herz. Eine klare Phrasierung braucht Zeit und Atem. Auch im schnellsten Tempo.
Versuch mal einen Vogelgesang nachzupfeifen? So genau und gut kannst Du es nicht. Aber es ist gar nicht so schnell!
Das heisst eigentlich Rhythmus!
Deshalb spiele ich immer was ich singe. Dann stimmt das Timing.
Singen was du spielst ist Scheisse, aber spielen was du singst, das ist gut!
Aber als kreativer, als suchender Mensch, gibt es doch manchmal auch Dinge die man „Contre Coeur“ macht! Manchmal muss man auch aus Neugierde und Lust gegen die Vernunft etwas tun, etwas wagen, etwas ausprobieren?
Ja, man wählt oder entscheidet später!
Ich habe das mit Samuel Blaser erlebt. Er hat mich zu Spielen angefragt, und ich habe „Nein“ gesagt. Und er hat mich wieder gefragt, und ich habe wieder „Nein“ gesagt. Und irgendwann hat er doch wieder gefragt, und ich habe gesagt, OK, das machen wir !
Es hat sich sehr gelohnt! Ich wurde so reich beschenkt.
Du hast immer noch einen Alltag als Musiker – Du übst!
Ja, jede Nacht. Und ich bespreche mein Üben laut mit mir selbst! Ich rede zu mir. Wenn Du hörst, was Du dir selber sagst und kritisch bist, dann baust Du deine eigene Theorie auf. Das Interessante daran ist, ich übe Dinge während vielen Jahren, und es kommt am Konzert nie ins Spiel. Es ist noch nicht in meinem Spiel integriert. Dann übe ich weiter. Dieses Wahrnehmen einer Geste übe ich.
Und plötzlich kommt es frei ins Spiel, ohne dass es gewollt ist.
Wenn ich zu Denken beginne, ist mein Spiel kaputt.
Das heisst wenn Du Solo spielst, hast Du keine Stücke vorbereitet?
Wenn ich Solokonzerte spiele, gehe ich ohne Plan auf die Bühne.
Ich schaue meine Stöcke an und entscheide mich für ein bestimmtes Paar. Das ist der einzige bewusste Entschluss, den ich fasse.
Ich schreibe auch Stücke, aber nur für ein Ensemble.
Es gibt aber Konzerte, an denen die ganze Zeit etwas Anderes kommt, und ich merke, so hast du noch nie gespielt, und das ist schon sehr schön! Hast Du mal so etwas „Neues“ im Konzert gespielt, dann gehört es Dir. Es ist definitiv Deine Musik geworden.
Das ist als Jazzmusiker als Improvisator schon der authenthischste Weg, mit dem Publikum den Moment zu teilen. Du übst viel, Du bist total vorbereitet, aber dann erfindest Du es in Echtzeit, Jetzt!
Ja, ich arbeite viel an meiner körperlichen Haltung. Du gibst Dir selber Unterricht – und mit der Zeit wirkt es.
Du bist ja Autodidakt und jetzt sagst Du, Du bist Dein eigener Lehrer. Das macht Sinn. Dank diesem Zustand, diesem Vorgang, bist Du immer noch am Lernen.
Das ist der Weg. Ich höre nicht auf.
Es ist beinahe religiös. Dieser Tausch, dieses Geben und Nehmen. Nicht kopieren, aber sich inspirieren lassen.
Als TV Gopalkrishnan (indischer Mrigandam Spieler, mit dem Pierre in den 70 Jahren gespielt hat ) gesagt hat , Du wirst mein bester Schüler, habe ich geantwortet: „Ich, Dein Schüler? Nie! Aber ich spiele mit dir!“
Wäre ich sein Schüler geworden, ich hätte wie sein Schüler gespielt. Aber ich habe viel von ihm gelernt, und er von mir.
Du bist ein Selfmademan. Gibt es Schlüsselmomente, wo Du gemerkt hast, heute hat sich Dein Leben verändert?
Ja , in den Träumen, immer wieder!
Und als Kind habe ich Billy Holiday gehört und bin wahrscheinlich bewusstlos geworden. Ich habe nicht gewusst, was es ist. Aber es war massiv.
Oder Billy Higgins im Bazillus in Zürich, das war irgendwann in den 80er Jahren, schon relativ spät in meiner Laufbahn. Ich habe ihn reingesaugt. Während zwei Wochen war ich wie bewohnt von ihm, und ich habe gegessen wie er! Ganz plötzlich, es war wie eine Dusche, die mich neu gesegnet hatte.
Gene Krupa, zum Beispiel, diesen Clown, mochte ich gar nicht.
Aber Billy Higgins, ja! Das suche ich!
Schau mal was Du hinterlässt, hör mal genau hin, was Du tust, ganz kritisch. Dann kommst Du weiter.
Oft höre ich Konzerte, auch von alten Kollegen, bei denen fällt mir auf, dass diese Musiker zwar ihrem Kreis treu sind, aber nicht sich selber. Sonst würden sie doch so nicht mehr spielen.
Bist Du Dir denn immer treu geblieben?
Nein, aber meistens. Aber es kostet etwas. Du kriegst eins auf die Nase, von Deiner eigenen Szene. Aber in meinem Urteil bin ich mir treu geblieben. Der Free-Jazz-Kreis, zum Beispiel, das war gar nicht einfach.
Als ich dann zum ersten Mal Solo gespielt habe, da wurde ich als „schwul“ bezeichnet. Das war damals noch eine grosse Beleidigung! Sogar in der Zeitung in England stand das so. Auch dass ich ein Verräter sei. So habe ich meine Erfahrungen gemacht, dass die Freejazz Szene gar nicht so frei ist.
Du möchtest Freiheit haben? Hast Du die Kraft dafür zu zahlen? Das ist teuer!
Ich wurde gefragt, Pierre, was hast Du falsch gemacht, dass Du nicht berühmter bist?
Ich bin kein Star. Ich hoffe ich werde auch keiner.
Ich bin so berühmt wie ich sein will, weil ich frei bin!
Aufgezeichnet von Lucas Niggli , April 2017.
Pierre Favre, geboren 1937 in Le Locle, ist der grosse Poet unter Europas Schlagzeugern . Das ist schon so sehr ein Gemeinplatz geworden, dass es der Erklärung bedarf.
„Schlagzeug“ ist eines dieser schrecklichen deutschen Wörter (wie „Schmetterling“), die etwas ganz Fragiles ganz martialisch erscheinen lassen. Pierre Favre war zwar auch einmal ein traditioneller Jazz-Drummer, der time keeper mehrerer Big Bands. Aber schon früh wurde er eine der Schlüsselfiguren des europäischen Free Jazz, und zwar nicht der weit verbreiteten brachialen, sondern der fragilen Variante, immer gemäss seiner sinnfälligen Formel, Musik sei „poetry in motion“. Das meint auch: Pierre Favre ist natürlich ein starkes Temperament. Aber er ist auch ein ganzer Kosmos – ein Musiker, in dem sich wie in einem Prisma die improvisierte Musik der ganzen sechzig Jahre bricht, die er nun schon auf der Szene ist. Er hatte schon immer ein Ohr für die melodiösen Qualitäten alter Drummer, auch wo die keiner sonst hörte. Er glaubt an die Unteilbarkeit der Musik, versteht sich nicht nur als „Rhythmiker“. Er war immer ein „singender“ Drummer („Singing Drums“ hiess vor Jahren seine Produktion mit vier Perkussionisten: ihm selbst, Paul Motian, Fredy Studer und Nana Vasconcelos). Ein Melodiker zunächst in dem buchstäblichen Sinn, dass er sein Instrumentarium um um eine Vielzahl von Becken, Gongs, Glocken und alle Arten subtil gestimmter Kleintrommeln erweiterte.
Dann aber auch insofern, als seine Perkussion immer organischer wurde, auf die fundamentalen kreatürlichen Rhythmen horchte: den Atem, den Herzschlag. Das Schweigen. Favre interessiert sich für die ganze Musik. Seine Partner kamen nicht nur aus dem „Jazz“ (und aus dessen unterschiedlichsten Zonen), sondern auch aus der neuen E-Musik, und vor allem aus den verschiedensten Ethnien querweltein: afrikanischer, brasilianischer, indischer, fernöstlicher Musik.
Er liebt den bedingungslos offenen Diskurs und damit kleine Formationen. Von Pierre Favre gibt es viele Duos (die mit der Sängerin Tamia und mit der Pianistin Irène Schweizer sind darunter nur die berühmtesten). Seine Vorliebe für Solo-Performances sollte uns nicht täuschen: im kollektiven Prozess ist Pierre Favre eine Art Medium. Einer, der Zeit und Raum verwandelt, dehnt und verdichtet. Der eine Aura schafft, eine Atmosphäre grosser Konzentration und gleichzeitig Entspanntheit. „Poetry in motion“ meint das Gegenteil von ungefährer Gefühligkeit. Spielerischen Ernst. Den erfüllten Augenblick. Und die Bereitschaft, sich stets auf und für’s Neue vom ihm zu verabschieden.
pr., 7.3.12 Peter Ruedi
Was Pierre Favres Schaffen heute auszeichnet, kann man durchaus als Reife bezeichnen. All die unterschiedlichen Erfahrungen sind eingeflossen. Vom frühen hochenergetischen Spiel mit Irène Schweizer und Peter Kowald über die Zurücknahme des Klangs bis an den Rand der Stille mit der Sängerin Tamia. Von der Arbeit mit Jazzgruppen bis zum Solo als Perkussionist und zur Potenzierung mit Gruppen von Schlaginstrumentalisten unterschiedlicher musikkultureller Herkunft. Von der völlig auf das Spontane konzentrierten Improvisation bis zum konzeptionellen, strukturbestimmenden Denken. Vom Auszug nach Paris und der Rückkehr in die Schweiz Anfang der neunziger Jahre. Von den „Singing Drums“ zum „European Chamber Ensemble“.
Wie klingen die Stücke? Für mich hallt in ihnen die europäische Musikkultur wider. Nicht die Welt der Klassik, sondern die des Mittelalters und der Renaissance. Zeiten, die uns oft näher stehen, weil in ihnen – wie heute – vieles in ständiger Bewegung war. Und auch die Musik des Mittelmeerraums klingt nach und klingt mit, die Öffnung zu orientalischen und afrikanischen Kulturen.
Hier freilich finden sich Schnittstellen zur hymnischen Melodik eines John Coltrane, zum Aufbrechen der Klänge im Schatten späterer, auch über den Jazz hinausschauender Generationen. Pierre Favres Stücke entfliehen der traditionellen Liedform, aber sie sind angefüllt mit Gesanglichem. Das unterscheidet sie vom Schaffen der Komponisten Neuer Musik. Favre feiert das Leben mit tänzerischer Leichtigkeit des Klingenden.
Doch er weiss auch um das Melos der Melancholie, um die Schärfe der Dissonanz und das Stimmengewirr in der Nacht. So sind diese Titel nicht nur in sich, sondern auch im Verhältnis zueinander komponiert.
Ein grossartiges Porträt, ein gross angelegtes Gruppenbild und eine von Perkussionsrhythmen durchzogene Klangfolge, die uns über das Leben erzählt.
Bert Noglik, Die Wochen Zeitung, WOZ,
Zürich, 21.Sept. 2000